Rainer Plum, MUK Zirndorf (13.6.2021)
Mit dem 1952 geborenen Rainer Plum aus Bergisch Gladbach in Nordrhein-Westfalen stellt der Kunstverein Zirndorf im Rahmen der Biennale der Zeichnung einen Künstler vor, dessen Werk beispielgebend die Essenz dessen verkörpert, was in der Kunsttheorie als Zeichnung heute verstanden wird. Dafür möchte ich den MUK Zirndorf beglückwünschen!
Die Definition von dem, was eine Zeichnung ausmacht, wurde im Lauf der letzten vier bis fünf Jahrzehnte immer mehr eingedampft auf ein einziges Kriterium. Heute kann jedes bildnerische lineare Geschehen eine Zeichnung sein. Zusätzliche Kriterien wie die Abwesenheit von Farbe oder das Vorhandensein des Trägermaterials Papier oder die Verwendung der Materialien Kohle oder Graphit sind fragwürdig oder überflüssig geworden.
Die Bedeutung der Zeichnung schwankte im Lauf der letzten 500 Jahre stark. Mal wurde sie religiös überhöht, mal wurde sie zu einem bloßen Hilfsmittel der Bildhauer oder Maler degradiert. Dass es sich nicht um eine Vorstufe für etwas anderes handelt, bspw. ein Gemälde, war den Künstlern der Renaissance klar, deren Kunsttheorie das Disegno zur quasi göttlichen Idee adelte. Der Bildhauer und Architekt Benvenuto Cellini schreibt um 1563:
„Denn der Disegno ist von zweierlei Art. Die erste ist die, welche in der Einbildung (Imaginativa) geschieht, die zweite geht aus der ersten hervor und zeigt sich in Linien und hat den Menschen so kühn gemacht, dass er es unternahm, mit dem großen Vater Apollo zu wetteifern, welcher Pflanzen und Gräser und Blumen und Tiere entstehen lässt, alles wunderbare Dinge und Zierden unserer Erde“ (zit. nach DISEGNO BEITRAGE ZUR GESCHICHTE DES BEGRIFFS ZWISCHEN 1547 UND 1607 von Wolfgang Kemp, Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 19. Bd., 1974, S. 222)
Entscheidend ist für Cellini der Doppelcharakter – einerseits die Dimension des geistigen Entwurfs (d.i. die Einbildung), andererseits der technisch-praktische Aspekt.
Die Definition des 21. Jahrhunderts, Zeichnung sei ‚line-drawing’, verzichtet auf jedes Pathos. Der Wertschätzung der Zeichnung tut das keinen Abbruch. Sie ist nur eine andere als vor 500 Jahren. War es damals der Vergleich zwischen einem Schöpfer-Gott und einem gottesebenbildlichen Schöpfer mit göttlicher Inspiration, ist es heute eine (kunst)soziologische Wertschätzung, die abhebt auf die starke Ambiguität, die im line-drawing steckt. Der Soziologe Niklas Luhmann schreibt in seinem Buch „Die Kunst der Gesellschaft“, dass der Begriff der Zeichnung, das Disegno, „einer der interessantesten Begriffe der Tradition“ sei (ders. in Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M., 2.Aufl.1996, S.426), weil er das Bersten eines Kontinuums verursache. Denn eine Linie existiert nicht in der Natur, eine Linie ist weder in einem Ding, noch außerhalb eines Dings, zitiert er Leonardo. Folglich wird durch eine Linie ein Kontinuum, wird letztlich die ganze Welt aufgebrochen, und auf einmal gibt es eine Seite und eine andere Seite. Dieses Aufbrechen, so kann man Luhmann heute interpretieren, ist eine Arbeit gegen die Vereindeutigung der Welt, steigert dafür die Ambiguität – ein Qualitätsmerkmal für den Unterschied zwischen Kitsch und Kunst.
Rainer Plum, der hauptsächlich in Düsseldorf bei dem informellen Maler Gerhard Hoehme Malerei studiert hat, und der selbst 14 Jahre als Hochschullehrer mit dem Schwerpunkt auf „Methodenlehre der visuellen Darstellung“ an der FH Aachen in der Ausbildung von Produktdesignern tätig war, ist Zeichner. Ob er nun traditionell mit Graphit auf Papier zeichnet oder ob er Lichträume aus Laserprojektionen kreiert, ob er Fotografien von Ausschnitten solcher Projektionen bearbeitet oder ob er Aluminiumskulpturen gießen lässt, die Linie ist unzweifelhaft sein Dreh- und Angelpunkt. Zu den Lichträumen und der Verwendung des Lasers fand er erst als bereits 40jähriger Künstler, der Mitte der 1990er Jahre ein Aufbaustudium an der damals neuen Kölner Kunsthochschule für Medien mit einem Diplom für audiovisuelle Medien abschloss.
Die Konzentration auf die Linie in verschiedenen künstlerischen Techniken ist mir so bei einem Einzelkünstler eigentlich noch nie begegnet.
Was ist seine Intention? Trotzdem er mit Licht arbeitet und häufig zu Gruppenausstellungen zum Thema Licht eingeladen wird, lehnt Plum die Bezeichnung ‚Lichtkünstler’ ab. Und wenn er mit Licht regelmäßige Flächen und stereometrische Körper simuliert, er sich folglich jeglicher Abstraktion mit einer Bindung an Naturvorbilder verweigert, so möchte er dennoch nicht in die Schublade der konkreten Kunst gesteckt werden.
Was könnte die Quintessenz all dessen sein? Es ist richtig und trotzdem zu wenig, wenn man konstatiert, dass Plum den Raum sucht und zur Mitte hinstrebt. Am Telefon sagt er mir, dass er keine Erzählung will, vielmehr eine Genauigkeit der seelischen Empfindung.
Wie sollen wir das denn verstehen? Vielleicht mit einem chinesischen Sprichwort, das lautet: „Der Vogel singt nicht, weil er die Antwort weiß, er singt, weil er ein Lied hat.“?
Von einem Künstler erwarte ich keine Antwort, sondern eine Frage.
Als inspirierende Künstler-Vorbilder nennt Plum Kasimir Malewitsch und Giorgio Morandi, zwei Monolithen der Kunstgeschichte, die entweder für eine Periode oder sogar ein Leben lang monothematisch unterwegs waren. Der eine, Malewitsch, war der erste Vertreter einer mechanistischen Abstraktion, in der Natürlichkeit keinen Stellenwert mehr hat. Er geht zu einem Nullpunkt der Malerei. Und lädt sie wieder religiös auf. Der andere, Morandi, beanspruchte still-beharrlich ein Monopol auf die innere Notwendigkeit seiner Kunst. Und zeigte, dass es bei der Intensität nicht auf das Motiv ankommt, sondern wie etwas gemacht respektive gemalt ist.
Rainer Plum kreiert seine Lichträume, indem er entweder mit einer Nebelmaschine ein Nebelfluid in den Raum sprüht, welches dann die Laserstrahlen sichtbar werden lässt, oder für die er, wie hier in einem kleinen Raum, in dem das permanent einströmende Fluid den Betrachtern unzumutbar wäre, Nylonschnüre spannt. An denen bricht sich das Licht und wandert entlang. Es existiert ein temporär erfahrbarer Raum aus Lichtkanten, der auf viele Betrachter wie ein Kraftfeld wirkt. Die Lichtkanten oder –strahlen grenzen innerhalb des Ausstellungsraums unwirkliche oder unmögliche Räume ab. Linien aus pulsierendem Licht definieren für unsere Vorstellungskraft Flächen im Raum: Gewissermaßen eine Illusionskunst, denn der Strahl aus Licht mit seiner holografischen, schwebenden Wirkung ist nicht-materiell, ist nur scheinbar ein Kontinuum, Welle auf Welle entsteht er in jedem Augenblick neu. Der Raum ist wahrnehmbar, aber unbeständig. In Plums eigenen Worten:
„(…) Für den Betrachter wird plötzlich etwas sichtbar, was der Logik widerspricht, [was] es eigentlich in dieser Form nicht geben kann, aber dennoch existiert. Jener Widerspruch bildet die Basis meiner künstlerischen Arbeit und ist dem Staunen vor der sichtbaren Wirklichkeit geschuldet. In einem Prozess der Entschleunigung werden die Geschwindigkeiten beim Wechsel der Laserlichtereignisse, die sich immer wieder neu zusammensetzenden Linien, Flächen und Räume, so gewählt, dass der Betrachter in einen Spannungszustand versetzt wird und Stille offen wahrnimmt. Der Betrachter steht den Ereignissen nicht nur sehend, sondern zugleich körperlich gegenüber – sein Körper ist Teil der Ereignisse und bestimmt die Beziehung zu den virtuellen Konstruktionen bzw. schafft eine Identifikation. (…)“ (Rainer Plum cit. nach https://www.lifa-research.org/de/artists/plum/)
Das ‚line-drawing’ wird zur Existenzform, in welcher der Künstler die Zeit absichtsvoll verlangsamt.
Formal sollte der Betrachter sich nicht täuschen lassen: Als Lichtstrahl ist die Linie nur scheinbar scharf umrissen, weil der Laser stark gebündeltes Licht mit sehr wenig Streuung wirft. Trotzdem besteht dieses Licht aus Teilchen (Photonen). Blicken Sie genau hin: Kommt Ihnen der Lichtstrahl nicht auch wie eine Ameisenstraße vor? Es besteht eine Ähnlichkeit zu einem Strich mit einem Graphitstift (Abrieb!).
In den Zeichnungen auf Karton ist der Strich zentriert, als wären es Eisenfeilspäne, die auf ein Magnetfeld reagieren. Wir sehen nervige Linien, die von oben nach unten gezogen sind, aber nicht in einem Zug, sondern so, als hätte Rainer Plum mitten im Zeichnen Bedenken gehabt, innegehalten, wieder weitergemacht, erneut Skrupel bekommen, dann entschlossen die Linie nach unten fortgesetzt, eine weitere Gedankenpause eingelegt, nach der sich der Graphitstift teilweise in das Papier bohrt.
Die Linie sucht sich mal entschlossen, ein andermal zögernd ihren Weg durch den Raum des Papiers. Hier das Licht als die quasi lebendige Linie, dort die Zeichnungen mit ihren lebhaften Linien, und auf den Sockeln die Aluguss-Skulpturen, die für den Künstler dreidimensionale Kraftlinien sind, die aus einem Punkt der Platte wachsen. Zwar sind die Skulpturen dreidimensional, aber vorrangig lineare Ereignisse, Verräumlichungen der Zeichnungen.
Bei den Fotoarbeiten links und rechts der drei Zeichnungen handelt es sich nicht um sachliche Wiedergaben älterer Installationen, sondern um bearbeitete Fotos, die entweder geschwärzt oder ins Weiß umkopiert und weiter bearbeitet sind, um das für den Künstler Essentielle herauszuarbeiten. Anders hingegen der sechsteilige Fotoblock auf der gegenüberliegenden Wand, der Installationen im Freiraum zeigt, bei denen Laserprojektionen auf regelrechte Wasserräume ausgerichtet wurden.
Eingangs habe ich zitiert, es ginge Rainer Plum beim Arbeiten um die Genauigkeit der Empfindung. Ich fand diese Formulierung bemerkenswert, aber nicht einfach zu deuten. Denn wir sprechen über Empfindung nicht losgelöst von Ereignissen, Phänomenen, Erlebnissen. Was kann man sich unter der Genauigkeit der Empfindung vorstellen? Im Gespräch während des Ausstellungsaufbaus kam ich auf diese Frage zu sprechen. Und wir fanden, dass es ihm mindestens ebenso auf die Intensität der Empfindung ankommt: An jedem Tag, an dem er arbeitet, bei allem, was er künstlerisch unternimmt, möchte er unbedingt eine vergleichbar hohe Intensität der Empfindung erreichen. Dass er dabei bestrebt ist, technisch genau zu sein – ob beim nicht-automatischen Zeichnen, ob bei der Ausrichtung seiner Laser, ob beim Aufbau für einen Alu-Guss –, das ist ebenso wahr.
Spontan erinnerte mich das an die Haltung des Lehrers von Anselm Kiefer, den Maler Peter Dreher, der Anfang 2020 starb. Der malte 50 Jahre lang jede Woche das kleinformatige Bild eines Wasserglases und gab der Serie den Titel „Tag um Tag guter Tag“. Wer auf das Motiv Wasserglas und die Technik schaut, erkennt nicht, was den Maler Dreher und den Zeichner Plum verbindet: Es ist die zitierte Genauigkeit und Intensität der Empfindung, ein geistiger Raum, wie ihn Künstler für sich anstreben, und in dem sie sich frei und nicht bevormundet fühlen.
© Hans-Peter Miksch, Fürth, 12.6.2021
Zeichnungen und Fotografien
Laserinstallation für Zirndorf, 2021
Technik: 3 Linienlaser 532nm mit jeweils 75mW